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Das Märchen vom Serotoninmangel

Sina Rößer • Mai 06, 2024

Eine weltweit bekannte These, so gut verbreitet, dass viele davon ausgehen sie ist Fakt. Depressionen werden angeblich durch Serotoninmangel ausgelöst, aber ist das wirklich so? Oder sind wir hier einer lukrativen Geschichte auf den Leim gegangen. Was ist Serotonin überhaupt, wie ist man zu dieser Erkenntnis gekommen und welche Ursachen haben Depressionen denn dann?

Diese und andere spannende Fragen beantworte ich euch in diesem Blogbeitrag.

Was ist Serotonin?

Serotonin ist ein Neurotransmitter, der eine wichtige Rolle im Nervensystem des Menschen spielt. Als Neurotransmitter überträgt Serotonin Signale zwischen Nervenzellen (Neuronen) im Gehirn und im gesamten Körper. Es wird oft als "Glückshormon" bezeichnet, obwohl seine Rolle komplexer ist als nur die Regulierung von Glücksgefühlen.

Serotonin wird hauptsächlich im Darm produziert, nicht wie viele annehmen in Gehirn. Deshalb ist auch immer eine ganzheitliche Betrachtung wichtig. Wie geht es deinem Darm? Du bist was du isst, ist nicht nur eine Redewendung. Auch eine Darmsanierung kann bei Depressionen sinnvoll sein. Serotonin beeinflusst eine Vielzahl von physiologischen Prozessen, darunter die Stimmung, das Schlafverhalten, den Appetit, die Verdauung, die sexuelle Funktion, die Blutgerinnung und die kognitive Funktion. Es wird angenommen, dass Serotonin auch eine Rolle bei der Regulation des Schlaf-Wach-Zyklus spielt. Ein Ungleichgewicht im Serotoninspiegel im Gehirn wird oft mit Stimmungsstörungen wie Depressionen, Angstzuständen und Zwangsstörungen in Verbindung gebracht. Aber ist das wirklich so, oder gibt es andere Gründe?

depression forschung labor

Diese »Serotoninhypothese« stammt aus dem Jahr 1969. Forscher hatten zuvor bemerkt, dass ein Abbauprodukt des Moleküls in der Gehirnflüssigkeit von depressiven Patienten in geringeren Mengen vorkam als bei Gesunden. Zwei Wissenschaftler in Leningrad (heute Sankt Petersburg) in der damaligen Sowjetunion schlugen daraufhin vor, Depressionen würde ein Mangel an Serotonin zu Grunde liegen. Das Modell ging in die medizinischen Fachbücher ein. Es wird immer noch von vielen Seiten zitiert – und das, obwohl mittlerweile klar ist, dass die verlockend einfache Erklärung falsch ist. 

Die ersten Antidepressiva wurden nicht gezielt entwickelt, sondern durch Zufall entdeckt. Bei Arzneimitteltests zur Behandlung von Tuberkulose Anfang der 50er Jahre, ging es den Patienten stimmungsmäßig besser, nachdem sie das Medikament Iproniazid erhalten hatten. Damals wusste aber niemand warum das so war. 1958 wurde das Medikament zur Behandlung von Depressionen zugelassen, aber nur wenige Jahre, da es schwere Nebenwirkungen hatte.


In den 1970er und 1980er Jahren versuchten zahlreiche Forschungsgruppen, die Theorie auf ein solides wissenschaftliches Fundament zu stellen. 1980 fasste der schwedische Mediziner Carl-Gerhard Gottfries, damals an der Universität Göteborg, die Erkenntnisse mehrerer Studien zusammen. Überraschenderweise zeigen die Daten im Gehirn von Verstorbenen keinen Zusammenhang zwischen der Menge an Serotonin und Depression. 


Danach wurde mehrfach versucht die Theorie auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen. Doch bei Untersuchungen zeigten die Daten im Hirn von Verstorbenen keinen Zusammenhang von Serotonin und Depression. Manchmal wünschte ich mir es wäre anders, es gäbe einfach eine Ursache und ein wirksames Medikament das die Ursache behebt. Leider ist es nicht so einfach...


Erschreckende Zahlen

Allgemein kann gesagt werden, dass Antidepressiva zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten in Deutschland gehören, insbesondere zur Behandlung von Depressionen und anderen damit verbundenen Störungen.

Eine Studie aus dem Jahr 2019, die in der Fachzeitschrift "Deutsches Ärzteblatt" veröffentlicht wurde, ergab, dass zwischen 2008 und 2018 die Verordnungen von Antidepressiva in Deutschland deutlich zugenommen haben. In dieser Zeit stieg die Anzahl der Verschreibungen von Antidepressiva um etwa 50 Prozent.

Nach Angaben des Arzneiverordnungs-Reports 2020, einer jährlichen Publikation, die von der Techniker Krankenkasse herausgegeben wird, wurden im Jahr 2019 in Deutschland rund 1,6 Milliarden Tagesdosen von Antidepressiva verschrieben. Dies entspricht einem Anstieg von etwa 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Welche Ursachen lösen denn dann eine Depression aus?

Es gibt sehr viele Ursachen für Depressionen, das kann auch hier auch gerne nachgelesen werden.

Eine noch ziemlich unbekannte möchte ich euch hier vorstellen, es ist das Entwicklungstrauma.

Entwicklungstrauma bezieht sich auf traumatische Erfahrungen, die während der Kindheit oder Adoleszenz auftreten und die normale Entwicklung des Kindes beeinträchtigen können. Zum Beispiel Missbrauch, Vernachlässigung, Trennung von Bezugspersonen, familiäre Konflikte, Armut oder andere belastende Umstände verursacht werden. Expertinnen und Experten gehen von einer Epidemie aus, da Erziehungsmethoden wie Babys schreien lassen oder, dass Eltern ihre Kinder nicht co-regulieren können, noch oft an der Tagesordnung sind. Menschen sind so gesehen Frühgeburten und werden in das Nervensystem der Mutter (Mutter, weil die Mutter oft die meiste Zeit mit dem Baby verbringt) aufgenommen.

Es gibt einen wachsenden Konsens in der psychologischen Gemeinschaft darüber, dass Entwicklungstrauma ein Risikofaktor für die Entwicklung von psychischen Störungen wie Depressionen sein kann. Kinder, die traumatische Erfahrungen machen, können langfristige Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit haben, die bis ins Erwachsenenalter reichen können.

Mehrere Mechanismen können erklären, wie Entwicklungstrauma zu Depressionen beitragen kann:

  1. Beeinträchtigte Bindung und zwischenmenschliche Beziehungen: Entwicklungstrauma kann die Entwicklung gesunder Bindungen zu Bezugspersonen beeinträchtigen und zu Schwierigkeiten bei der Bildung und Aufrechterhaltung gesunder zwischenmenschlicher Beziehungen führen, was ein Risikofaktor für Depressionen sein kann.
  2. Beeinträchtigte emotionale Regulation: Traumatische Erfahrungen können die Fähigkeit des Kindes beeinträchtigen, Emotionen angemessen zu regulieren, was zu Stimmungsproblemen wie Depressionen führen kann.
  3. Negative Überzeugungen und Selbstbild: Entwicklungstrauma kann dazu führen, dass Kinder negative Überzeugungen über sich selbst und die Welt entwickeln, die zu einer erhöhten Anfälligkeit für Depressionen führen können.
  4. Biologische Auswirkungen: Traumatische Erfahrungen können auch die neurobiologische Entwicklung beeinflussen und zu langfristigen Veränderungen im Gehirn führen, die das Risiko für Depressionen erhöhen können.

Es ist wichtig anzumerken, dass nicht alle Menschen, die Entwicklungstrauma erleben, zwangsläufig Depressionen entwickeln. Die Auswirkungen von Trauma hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab, einschließlich der Schwere des Traumas, der Verfügbarkeit von sozialer Unterstützung, individueller Resilienz und anderen Lebensumständen.

Die Behandlung von Depressionen im Zusammenhang mit Entwicklungstrauma erfordert oft eine ganzheitliche Herangehensweise.


antidepressiva depression

Warum gibt es dann Menschen denen Antidepressiva hilft? 

Das ist tatsächlich nicht abschließend geklärt. Nicht zu unterschätzen ist der Placeboeffekt, Placebo wirken nur bei schweren Depressionen weniger gut als Antidepressiva. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass Antidepressiva die Neuroplastizität im Gehirn fördern können. Neuroplastizität bezieht sich auf die Fähigkeit des Gehirns, sich an veränderte Umgebungen anzupassen, indem es die Struktur und Funktion von Neuronen verändert. Dieser Prozess spielt eine wichtige Rolle bei der Lern- und Gedächtnisbildung sowie bei der Anpassung an Stress und anderen Umweltfaktoren.

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Antidepressiva, insbesondere selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs), die Neuroplastizität im Gehirn fördern können. Diese Medikamente beeinflussen die Signalübertragung zwischen Neuronen, insbesondere die Konzentration von Neurotransmittern wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin.

Die langfristige Anwendung von Antidepressiva kann zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führen, darunter eine Zunahme der Bildung von Dendriten und Synapsen, sowie zur Stimulation von neurogenen Prozessen, bei denen neue Neuronen gebildet werden. Diese Veränderungen können dazu beitragen, die Symptome von Depressionen zu lindern und das Wohlbefinden zu verbessern.

Es ist wichtig anzumerken, dass die genauen Mechanismen, durch die Antidepressiva die Neuroplastizität beeinflussen, noch nicht vollständig verstanden sind und dass weitere Forschung erforderlich ist, um ihre Auswirkungen auf das Gehirn zu klären. Dennoch deuten viele Studien darauf hin, dass Antidepressiva eine positive Wirkung auf die Neuroplastizität haben können und damit zur Behandlung von Depressionen beitragen können.

Dennoch sollten Antidepressiva nicht leichtfertig eingenommen werden. Meiner Meinung nach werden Antidepressiva viel zu oft verschrieben, haben unterschätzte Nebenwirkungen und können oft auch nicht einfach so wieder abgesetzt werden. Sie machen zwar nicht nachweislich süchtig, trotzdem gibt es Berichte von Menschen die Entzugssymptome bekommen oder eben wieder depressiv werden wenn sie Antidepressiva absetzen. Antidepressiva werden eigentlich nur noch bei schweren Depressionen empfohlen und dann auch nur zeitlich begrenzt, unterstützend für ein paar Monate. Es ist keine Seltenheit, dass Klienten jahrzehntelang Antidepressiva einnehmen. 

Was kann ich als Betroffene oder Betroffener denn noch machen?

Zum Beispiel eine Psychotherapie, denn Antidepressiva werden bei 1/3 der Erkrankten schon von den Hausärzten und Hausärztinnen verschrieben, da diese oft die erste Anlaufstelle sind. Diese sollten nicht leichfertig genommen werden, da bei leichten und mittelschweren Depressionen ein Antidepressiva nicht besser wirkt als ein Placebo. Außerdem wird den Patienten und Patientinnen damit die Möglichkeit geraubt, dass sie merken wie selbstwirksam sie sein können.

Viel mehr sind die Fragen wichtig, auf was möchte mich die Depression hinweisen?

Was möchte verändert werden, geheilt, gefühlt, angeschaut werden? Wo darf ich eine andere Perspektive einnehmen? Lebe ich ein erfülltes Leben, eine Partnerschaft in der ich mich frei entwickeln darf, folge ich der Freude, habe einen Beruf mit Sinn, wie gehe ich mit Stress um, habe ich Antworten für die wichtigen Fragen des Lebens gefunden, gebe ich der Welt etwas zurück, glaube ich an etwas, habe ich Verletzungen aus der Kindheit geheilt, kann ich mich selbst regulieren, glaubst du deinen Gedanken? Und nicht zu vergessen, da wirklich sehr wichtig: körperliche Ursachen vorher ausschließen, Stürze auf den Kopf, Nährstoffmangel, Vergiftungen, Entzündungsprozesse, Hormonprobleme, Schilddrüsenerkrankungen usw.

Das alles und viele weitere Prozesse kann dir keine Pille abnehmen!

Quellen:

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/83175/Versorgung-depressiver-Patienten-in-der-Hausarztpraxis

https://youtu.be/JAhJmv57SeE?feature=shared (SWR: wie leichtfertig werden Antidepressiva verschrieben)

https://youtu.be/BN_K-DU35dk?feature=shared (WDR: wem helfen Antidepressiva)

https://youtu.be/eYJNCp0jZTw?feature=shared (Prof. Dr. Thomas Hillemacher: Mythos Serotoninmangel)

https://youtu.be/mn8YKWeLHyM?feature=shared (Getraud Skoupy, Psychologische Psychotherapeutin: Die Polyvagaltheorie)

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